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Lieber 3 x nachgefragt – Tarof, ein Lehrstück persischer Höflichkeit

Eine Bittergurke freundlich dargeboten schmeckt
Besser als aus mürr’scher Hand das süßeste Konfekt.

Saadi, Persischer Dichter aus Shiraz, 13. Jh.

Du bist in Isfahan, Stadt der Brücken, und zufällig führt der Fluss gerade Wasser, das bekommt er nämlich rationiert, ein paar Wochen im Jahr. Alle Welt zieht es in die Parks beiderseits des Flusses, es blüht und duftet, man spielt Volleyball, macht ein Nickerchen auf der Wiese, lässt sich für ein Picknick nieder, zu zweit, im Pulk … Hier schlenderst du also und fragst dich, wo die Leute nur immer ihr immenses Picknick-Equipment verstauen, oder hernehmen, und überhaupt, als dich zwei nette junge Männer heran winken und auf ein Wasserpfeifchen am Ufer einladen. Mit ein bisschen Englisch und ein paar Brocken Farsi kommt ihr ins Gespräch, und du verstehst irgendwann, dass sie dich auch zum Abendessen bei einer Schwester eines der Beiden einladen wollen. Sogar übernachten könntest du dort. Auf der Terrasse.
Echt? Wie praktisch, denkst du, deine Übernachtungsoptionen waren bisher eher unkonkret. Also gerne, Hand drauf und abgemacht!

Hoppla. Das kann peinlich werden. Zumindest für die Einladenden, haben sie doch nicht damit gerechnet, dass der Tourist prompt zusagt. Wer ein echtes westliches Trampel ist, bekommt vielleicht nicht mal mit, wie die Herrschaften sich jetzt winden und eine Absage seitens der Schwester des Einen fingieren. Oder war’s die Schwägerin des Anderen? Man hält es allenfalls für ‚typisch südländische’ Unstetigkeit.
Klar gibt es ernstgemeinte Varianten solcher oder ähnlicher Einladungen auf Iran-Reisen, und das nicht zu knapp. Ab und zu jedoch ist Tarof mit dabei. Tarof ist gewissermaßen eine standardisierte Interaktion, die das Geben & Nehmen regelt. Genauer: Tarof ist eine Geste der Höflichkeit, bei der man dem Gegenüber quasi die Welt verspricht, im Gegenzug aber immer eine Möglichkeit erhält, aus der Nummer ehrenvoll wieder heraus zu kommen. Gastfreundschaft und Höflichkeit gebieten, mit allem Erdenklichen aufzuwarten, was dem Andern eine Freude sein könnte. Manchmal führt das dazu, dass die Offerten die Grenzen des finanziell, praktisch und sozial Machbaren übersteigen. Umgekehrt ist es daher auch ein Gebot der Höflichkeit, Gaben und Ansinnen zunächst einmal abzulehnen. (Auch das Ausschlagen eines Angebots kann übrigens Tarof sein.) Wahre Meister sind die, welche der wohlgemeinten Einladung einen cleveren und zugleich hübschen Ausweg bieten, also etwa noch Lobpreis und hehres Leuchten auf den Einladenden fallen lassen, ohne das eigene Licht dabei unter den Scheffel zu stellen. Man könnte meinen, Tarof dient auf verbale, beinahe intellektuelle Art & Weise dem Aushandeln von Beziehungen und sozialem Status.
Doch keine Angst, diese Kür wird von einem Reisenden nicht erwartet. Es schadet freilich nicht, eine Vorstellung vom Tarof zu haben, denn sofern man sich nicht im Gehege durchorganisierter Gruppentouren bewegt, kommt man schnell damit in Berührung.

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Für den Anfang reicht es, wenn du dir eine Sache merkst: Alle Einladungen und Angebote 3 x höflich ablehnen. Besteht das Gegenüber weiter darauf, dann ist es auch so gemeint.

Im ersten Schritt geht es also darum, herauszufinden, ob Tarof vorliegt oder nicht. Ob dir eine echte oder eine zwar gutgemeinte aber ‚nur’ höfliche Einladung winkt. Nehmen wir Beispiele:

Du hast dir vom Park ein Taxi geschnappt und willst nun bezahlen.
„Ach, du brauchst mir nichts geben.“
„Doch, ich möchte aber.“
„Das war nichts wert, du kannst beim nächsten Mal bezahlen.“
„Aber für deine Mühen sollst du einen gerechten Lohn haben.“
„Es war mir schon genug Lohn, dich kennenzulernen.“
„Ganz meinerseits. Aber sag, wie viel schulde ich dir?“
„Na gut, dann gib mir 6.000, wenn du darauf bestehst.“
6.000 Toman, das macht ungefähr 1,50 EUR.
Jetzt musstest du den Fahrer buchstäblich dazu überreden, zahlen zu dürfen. Er gibt dir das Gefühl, dass es ihn ehrt, dass du dir die Mühe gemacht hast, seinen bescheidenen Beitrag zu beachten und zu entlohnen. Außerdem schwingt das Gefühl mit, dass die ganze Interaktion wichtiger war, als der Handel selbst.

Ebenfalls mit einem guten Gefühl gehst du im umgekehrten Fall aus der Situation.
„Komm, lass das Geld stecken, ich habe dich gern gefahren.“
„Aber …“
„Wirklich, ich wollte sowieso in die Richtung.“
„Ich möchte dich aber bezahlen.“
„Ich freue mich, jemanden aus Europa kennengelernt zu haben. Wir haben uns ausgetauscht und ich konnte mit dir offen über Politik reden. Das ist schön.“
„Das freut mich ehrlich, aber …“
„Dafür will ich keine Bezahlung.“
„Das ist sehr nett, herzlichen Dank.“
„Ich danke dir!“

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Ähnliche Sequenzen können dir beim Einkaufen begegnen, auf dem Bazar, wenn’s im Restaurant ans Bezahlen geht oder bei Zweien in der Tür, die einander den Vortritt lassen, bis es sich hinter ihnen staut.
Wie es sich für ein entsprechend elaboriertes Ritual ziemt, gehören zum Tarof reichlich Schmuckwerk und diverse Floskeln: Ach, das ist nichts wert. Du kannst beim nächsten Mal bezahlen. Dast-e tun dard nakone. (Möge deine Hand nicht schmerzen [ob deiner Gabe].) Selbst die Versicherung „No Tarof!“ kann sich als Tarof entpuppen.
Betrachten wir es einmal analytisch, ist es im Grunde gar nicht so kompliziert: Tarof hat zwei Seiten oder Akteure – Geber und Nehmer – mit jeweils zwei Aspekten, denn beide können Tarof machen, sowohl der Gebende als auch der Nehmende. Die Startaufstellung der Interaktion ist Anbieten–Ablehnen. Das ergibt die folgenden 4 Aspekte oder Rollen: Ich lade dich ein und meine es auch so. Ich lade dich ein und mache Tarof. Ich lehne ab und meine es auch so. Ich lehne ab und mache Tarof.
Im Normalfall ist das Tarof-Machen genau 1 x in dieser Grundsituation mit dabei. 2 x (sozusagen Fake-Angebot aber auch Fake-Ablehnung) führt hingegen zu Missverständnissen, wenn keiner der Beteiligten den Ausgang nimmt. Und gar kein Tarof ist entweder unhöflich (prompte Angebotsannahme) oder modern (es wird keine ritualisierte Ablehnung erwartet).

Um herauszufinden, ob jemand mit dir Tarof macht, lehnst du einfach 3 x freundlich ab. Die andere Seite der Medaille ist jedoch das Tarof auf der Nehmer-Seite. Da promptes Annehmen eines Angebots wie gesagt aus dem Rahmen fällt, sind hier, wenn man so will, nur die Aktionen positives Ablehnen (du willst tatsächlich nicht) oder negatives Ablehnen (du lehnst aus Höflichkeit ab) möglich. Konkret bedeutet das, dass von dir erwartet oder vermutet wird, Tarof zu machen. (Der analytischen Schärfe halber sei erwähnt, dass der Interaktion besonders im Fall eines Handels Reziprozität innewohnt. Der Taxifahrer bietet als Geber eine Dienstleistung an, agiert aber zugleich auf der Nehmer-Seite, bietest du ihm eine Bezahlung an.)
Doch zurück zu dir. Lehnst du ein Angebot ab – sei es, weil du wirklich nicht möchtest/kannst, sei es, weil du den Wasserpfeifen-Jungs aus Isfahan eine Brücke bauen willst, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen –, lehnst du also ab, helfen mitunter kleine Notlügen. „Vielen Dank, ich bin heute Abend schon zum Essen verabredet. Vielleicht morgen, inschallah.“ Zum Beispiel. Möglicherweise tauscht ihr ja die Nummern aus und drei Tage später kommt tatsächlich noch ein Abendessen zustande. Da sitzt du dann, den Bauch schon voll und glücklich, doch die guten Leute hören nicht auf, dir Leckerbissen feilzubieten. Du wirst mindestens 3 x ablehnen müssen, bis man dir glaubt. Und wahrscheinlich wird man dir auch sagen, du sollst kein Tarof machen. Andererseits bereitet es Spaß, sich ein bisschen zu zieren, bekommt man einen Nachschlag persischer Gaumenfreuden dargeboten, um dann mit einem grandiosen Lob auf den Lippen doch noch zuzulangen.

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Nicht dass jetzt der Eindruck entstanden ist, die komplette Gastfreundlichkeit Persiens sei Tarof! Man schenkt, gibt, überlässt, ermöglicht, lobt und dankt grundsätzlich gern in dieser Kultur. Und die Mehrzahl der Einladungen und Höflichkeiten ist in der Tat überwältigend ehrlich und aufmerksam. Sowieso ist ja auch das Tarof immer eine Geste der Höflichkeit. Und manchmal will einfach jemand Gewitztes testen, ob du Tarof schon kennst, aber als Tourist und Fremder ist dir eine Art Welpenschutz gewiss. Ansonsten ist Tarof ein fein ausbalanciertes Ritual, welches Geber & Nehmer ermöglicht, Gesicht und Stellung zu wahren. Manche, vor allem jüngere Iraner stört Tarof und die daraus entstehenden Missverständnisse. Sie halten es für umständliches Benimm oder konservativen Ballast. Andere sehen im Tarof die „Hohe Kunst der Höflichkeit“. Ich finde ja, Tarof ist eine schöne, etwas kokette Art des Gebens & Nehmens, des Teilens & Schenkens. Aber ich bin nicht tagaus tagein damit konfrontiert und kann mir vorstellen, warum manche meiner iranischen Freunde betonen, ja geradezu beteuern, keine „Tarofis“ zu sein. Für uns Westler kann Tarof hingegen ein spannender wie lehrreicher Brauch sein. Etwas aufwendiger in der Kommunikation, das schon, aber zugleich verbindender, indem man gemeinsam und behutsam zum Verbindlichen vordringt. (Und das in Zeiten, in denen gewisse Trampel ganze politische Stoßrichtungen und mehr oder weniger überlegte Affronts in 140 Zeichen packen.) Und warum nicht selbst ein bisschen Tarof versuchen? Zurück in der Heimat solltest du den Einsatz aber nicht zu hoch hängen.

Tue Gutes und halte nicht vor, so wird der Wohltat Einkommen auf dich zurückkommen.

Saadi

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